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Erinnerungen - mal ernst, mal heiter

Die Pille und die Versuchung

Damals befürchteten diverse Kreise, die Menschheit sterbe aus, als 1960 die Antibabypille auf den Markt kam.
Mit der Pille kündigte sich eine gesellschaftliche Revolution an. Zunächst durfte sie nur verheirateten Frauen mit bereits mehreren Kindern verschrieben werden. Ein paar Jährchen später war das gekippt.

Nun war Poppen ohne Zittern, ohne Knaus Ogino und ohne Gummi aus Spaß an der Freude möglich. Die Fortpflanzung stand nicht mehr im Vordergrund.
So Themen wie Aids gab es noch nicht und die diversen Geschlechtskrankheiten waren im bundesdeutschen Bürgertum verdrängt.

Klerikale Männerbünde sahen den Antichristen auf die Erde zurückkehren. Sodom und Gomorrha waren noch die gemäßigteren Umschreibungen. Dann kam es doch nicht so schlimm, auch wenn von so mancher Kanzel die Pille als Teufelswerk verdammt wurde.

Trotzdem, der »Pillenknick« war in der bundesdeutschen Geburtenrate, und nicht nur dort, nicht zu übersehen.

Im Laufe der Jahre zeigten sich nicht unerhebliche Risiken für die Frauen. Beckenvenenthrombosen und tödliche Lungenembolien machten Schlagzeilen.

Die Antibabypille war in der Realität angekommen. Auch wenn die Präparate besser wurden, ein Restrisiko blieb.

2005 wurde in einer Studie der Internationalen Agentur für Krebsforschung (International Agency for Research on Cancer (IARC)) in Lyon festgestellt, dass das Risiko für Brustkrebs, Gebärmutterhalskrebs und Leberkrebs erhöht und das für Eierstock- und Gebärmutterschleimhautkrebs verringert sei.

Wie das bei Studien so üblich ist, sie erreichen in den seltensten Fällen das gemeine Volk.

Aufzuhalten war so ein Hype sowieso nicht. Die Freude an der Lust und dann noch ohne ungewollte Schwangerschaft war zu verlockend.
Jetzt haben wir uns ja alle daran gewöhnt und keine Sau, ausser vielleicht ein Gynäkologe, fragt nach der Pille.

Ich operierte mal eine Frau, ist schon ewig lange her, an den Eierstöcken. Um genau zu sein, ich machte eine Eileiterunterbindung, damit sie nicht mehr schwanger werden konnte. Sie vertrug die Pille nicht, wie sie mir glaubhaft versicherte.
O.k. ich bin Chirurg, aber warum sollte ich das nicht machen dürfen?

Vorher beim Aufklärungsgespräch über den Eingriff, der natürlich laparoskopisch durchgeführt wurde, bemerkte ich, dass es wesentlich einfacher wäre, ihren Ehemann zu sterilisieren. Das könne man sogar in örtlicher Betäubung machen. Sie müsse dann nicht das erhöhte Risiko einer Operation tragen.

Es war nur gut gemeint, ich schwöre! Ich denke, so ein Hinweis gehört immer zu so einem Gespräch. Blauäugig, wie ich damals war, dachte ich mir nichts dabei.

Besagte Lady schaute mich keck an und sagte: »Doktorchen, mein Mann ist da außen vor. Der weiß nicht mal, dass ich hier bei Ihnen bin. Der fährt auch nie in Urlaub mit mir, so sehr ist er mit seinem Beruf verheiratet. Dann fahre ich eben alleine und genau deswegen nutzt es Garnichts, wenn sie bei meinem Mann die Samenstränge kappen!«
Ich musste erst mal Luft holen, dann fasste ich mich aber schnell.

Das war noch nicht alles.
Der Eingriff verlief komplikationslos. Die immer alleine urlaubende Lady verlies am Tag darauf die Station.

Wochen später bekam ich einen Anruf von der Dame, sie würde in wenigen Tagen in Urlaub fliegen und ob ich nicht Lust hätte mitzukommen. Es sei alles für zwei gebucht und ich müsse nur ja sagen.

Ich überlasse es Ihrer Phantasie, wie ich mich entschieden haben könnte.

Die Lady war attraktiv, eins zwei Jährchen jünger als ich und gut betucht. Ich denke mal, dass sie keine zwei Einzelzimmer gebucht hatte.

Ich weiß jetzt, was Sie denken!
Nie und nimmer hätte er das hier zugegeben, wenn er das verlockende Angebot wahrgenommen hätte. Dann hätte er ganz über diese Geschichte geschwiegen.

Da mögen Sie wohl Recht haben!

 

 

Der erste Tag

Die Krankenschwestern trugen noch ihre Schwesterntracht mitsamt Häubchen und die Krankenpfleger wurden häufig mit »Wärter« angesprochen.
Als junger Medizinpraktikant wurde ich in diese Krankenhauswelt, von der ich noch keine Ahnung hatte, hineinkatapultiert. Vor Studienbeginn musste man so ein Praktikum ableisten.

In einer großen städtischen Klinik trat ich auf einer septischen Männerstation in der Chirurgie meinen Dienst an.
Auf dieser Station lagen ausschließlich Patienten mit vereiterten Wunden.

Die Stationsschwester machte nicht viel Federlesens mit mir, sie drückte mir eine verchromte Zwickzange in die Hand und schickte mich über die Station zum Fußnägel schneiden.

Etwas überrumpelt, aber trotzdem frohen Mutes, steuerte ich das erste Krankenzimmer an. Es lagen sechs Männer darin, die mich neugierig beäugten. Gleich zur Linken lag ein alter Mann, dem ich mich sogleich zuwandte.
»Auf gehts Opa, Fußnägel schneiden!«, sagte ich zu ihm laut und deutlich und schlug die Bettdecke zurück. Allgemeines Gelächter war die Folge.
»Ich hab doch keine mehr!«, bekam ich zur Antwort.
Da lag dieser bedauernswerte Mensch vor mir ohne Beine. Die waren vor Kurzem in Oberschenkelhöhe amputiert worden.
Ich musste ziemlich bedröppelt geschaut haben.
Trotzdem ließ ich mich nicht entmutigen und nahm den Patienten daneben ins Visier.

»Bist Du ein neuer Wärter?«, fragte mich dieser.
»Nein, ich will mal Medizin studieren!«, gab ich ihm wahrheitsgemäß zur Antwort. Dann machte ich mich über seine Zehennägel her.

Nun rauschte eine wunderschöne Schwesternschülerin herein und brachte allen Patienten Tee. Ihre Tracht verriet mir, dass sie im dritten Ausbildungsjahr war. Sie lächelte mich himmlisch an. Ich vergaß sämtliche Fußnägel dieser Welt und lächelte zurück.

»Bist Du der neue Medizinstudent?« Es entstand eine Pause, in der ich irgendwas mit Ja brabbelte und meinen Vornamen sagte. »Ich bin die Heidi!« Dann stellte sie das letzte Glas Tee ab und schwebte, mit einem kessen Blick über die Schulter, aus dem Zimmer.

Ein, »Herr Doktor, Du hast meine Fußnägel vergessen!«, brachte mich wieder in die Realität zurück. Ich musste die himmelsgleiche Erscheinung verdrängen und mich den schnöden Zehennägeln widmen.

Das erste Zimmer war geschafft. Auf dem Flur begegnete ich der Stationsschwester. »Morgen machen Sie das nächste Zimmer!«, befahl sie mir. »Jetzt gehen Sie mit zur Verbandsvisite!«

Wenig später kam der Stationsarzt, ein schmächtiger junger Mann mit freundlichen Augen und einem Lächeln auf den Lippen.
Ah, Herr Kollege, wie lange bleiben Sie bei uns?« Er nannte mich »Kollege«, da war ich schon ein bisschen stolz. Dann gab er mir die Hand und ich antwortete »Sechs Wochen!«
Dr. Mihailovic, ich weiß nicht mehr, ob der Name so richtig geschrieben ist, nahm mich unter seine Fittiche. Ich durfte ihm beim Verbinden zur Hand gehen.

Septische, also infizierte, vereiterte Wunden, sind oft sehr aufwendig. Unter den Argusaugen der Stationsschwester packte ich mit an und Dr. Mihailovic erklärte mir, was es mit diesem und jenem Patienten auf sich hat und warum er die eine Wunde so und die andere anders verband.

Die Verbandsvisite verging wie im Flug. Schwester Dora, so hieß die Stationsschwester, meinte, es sei für den Anfang ganz ordentlich gewesen.

So verging der erste Tag meines Praktikums ohne nennenswerte Komplikationen. Todmüde setzte ich mich in den Zug und fuhr nach Hause.

Das himmlische Wesen bekam ich an dem Tag nicht mehr zu Gesicht.

 

 

Ein Satz für’s Leben

Das Physikum galt im Medizinstudium als schwerste Prüfung. Wer diese Hürde genommen hatte, durfte sich »cand. med.«, Kandidat der Medizin nennen. Vorher waren wir alle Studierende, also »stud. med«.

Nun war neben dem Studium die Famulatur angesagt, eine Art Praktikum für höhere Semester. Diese wurden in diversen Kliniken abgeleistet. Nun durfte ich mit den Ärzten mitlaufen und auch die eine oder andere ärztliche Tätigkeit unter Anleitung selbstständig durchführen.

Es war eine spannende Zeit. Hier lernte ich den Umgang mit Patienten, lernte diverse Untersuchungstechniken,  praktische Dinge halt, die später von grossem Nutzen waren.

Einen zweimonatigen Einsatz in der Kinderklinik ist mir besonders in Erinnerungen geblieben. Ich durfte in der Klinikambulanz mithelfen. Diverse Spezialsprechstunden wurden im wöchentlichen Rhythmus abgehalten. Die kleinen Patienten wuchsen mir alle ans Herz. Die onkologischen Sprechstunden waren für mich eine besondere Herausforderung.

Dort wurden viele Kinder mit Leukämie behandelt. Bei denen war zur Therapiekontrolle alle 3 Monate eine Liquorpunktion, ein Abzapfen von Rückenmarksflüssigkeit, notwendig. Das wurde ohne Narkose durchgeführt.

Die kleinen Patienten kamen in 4 wöchigem Turnus in die Spezialsprechstunde. Sobald sie ins Zimmer kamen, fragten sie, ob heute »Piks« gemacht würde. Wenn der Professor mit »nein« antwortete, ließen sie alle Untersuchungen über sich ergehen. Es wurde ja nicht Piks gemacht. Sagte er »Ja«, dann weinten sie oft still vor sich hin und fügten sich in ihr Schicksal.

Nach so einer Sprechstunde sagte mir der Kinderonkologe: »Belüge währen Deiner Behandlung nie, absolut nie ein Kind. Belügst Du es ein einziges mal, dann hat es alles Vertrauen zu Dir verloren!«

Diesen Satz nahm ich mir all die Jahre zu Herzen. Allzu schnell ist man geneigt, einem Kind mit einer barmherzigen Lüge helfen zu wollen. Es wird nie klappen. Ich belog während meiner ganzen ärztlichen Tätigkeit nie einen kleinen Patienten. Wenn es wehtat, dann sagte ich das, ohne irgendwas zu beschönigen.

Viele Jahre später kam ein 6 jähriger Knirps zusammen mit seiner Oma in meine chirurgische Sprechstunde. Er war mit der Hand in ein rotierendes Messer geraten. Viele Schnittwunden waren zu versorgen. Die Oma des Knaben war sehr aufgeregt. Sie lamentierte und bedauerte das Kind ununterbrochen. So kamen wir nicht weiter.

Kurz entschlossen nahm ich ihr den kleinen Prinzen weg, hieß sie im Wartezimmer Platz nehmen, und ging in einen der Ambulanzräume. Der Bub war erst mal überrascht, seine Oma war nicht mehr da und sonst war alles fremd um ihn herum. Er weinte, das tat halt weh!

Zusammen mit einer Schwester konnte ich den Knaben soweit beruhigen, dass ich die Lokalanästhesie legen konnte. Das würde jetzt ein paar mal Piks machen, aber es würde ja sowieso schon weh tun. Danach habe er keine Schmerzen mehr. Sehr tapfer legte er seine Hand auf das Versorgungstischen. Ich begann.

Ich fragte nach dem Kindergarten und bekam prompt von ihm zu hören, dass er heuer noch in die Schule käme. Ich fragte ihn, ob er denn gerne singen würde, und bekam ein Nicken. Mittlerweile wirkte die örtliche Betäubung. »Das tut jetzt nicht mehr weh!«, sagte er mir voller Stolz.

Ich begann die Schnittwunden zu säubern und zu nähen. Interessiert schaute er zu und wunderte sich über die gerundeten Nadeln. Dann sagte er mir, dass er mit seiner Mama immer das Lied »Ein Mops kam in die Küche« singen würde.
Daraufhin stimmten wir gemeinsam das Lied »Ein Mops kam in die Küche« an. Wir sangen es mehrmals rauf und runter und hatten viel Spaß dabei.

Nun kam die nächste heikle Szene. Ich wollte meinen kleinen Patienten für drei Tage unter stationärer Beobachtung haben, um rechtzeitig zu erkennen, ob sich die Wunden entzündeten. Eine Handinfektion kann sehr schlimme Folgen nach sich ziehen.
Das beredete ich mit ihm von Mann zu Mann. »Weißt Du, das haben wir jetzt so gut hingekriegt. Damit das gut heilen kann ist es am besten, Du bleibst drei Tage bei mir im Krankenhaus. Dann ist das soweit verheilt, dass nichts mehr passieren kann!«
Der Wonneproppen schluckte ein paar mal und gab sein OK.

Als ich die Oma in den Behandlungsraum rief, übernahm er selbst die Information.
»Ich muss jetzt hierbleiben. Du und Mama besucht mich jeden Tag und in drei Tagen bin ich wieder bei Euch!

Die Oma stand mit offenem Mund vor uns. Sie fand erst mal keine Worte, was für Großmütter eher selten ist.

Die Schwestern auf Station hatten viel Spaß mit dem aufgeweckten Kerlchen. Es heilte alles komplikationslos und das Entfernen der Wundfäden war ein Klacks!

Es war nichts anderes als grenzenloses Vertrauen.

 

 

Wenn einem das Herz in die Hose rutscht.

Die nächste Geschichte ist eine makabre Geschichte. Aber auch makabre Geschichten müssen erzählt werden.

In einem kleinen Krankenhaus im Schwäbischen war ich ein paar Jährchen als Assistenzarzt tätig. Dort hatte ich eine chirurgische Station zu betreuen. Für einen Jungspund, wie mich damals, eine Herausforderung.
Neben dem Wirken bei den Lebenden musste natürlich auch immer mal wieder der Tod bei einem Menschen festgestellt und per Leichenschein dokumentiert werden.

So geschah es an einem Werktag frühmorgens. Ein alter Mann erlag in der Nacht seinem Leiden. Wir alle hatten schon damit gerechnet. Nun war er Tod! Ich füllte die üblichen Formulare aus und kümmerte mich wieder um die Lebenden. Mittlerweile war der Leichnam vom Bestatter abgeholt.

In den Nachmittagsstunden eilte ein Mann auf meine Station und verlangte nach mir. Ich bat ihn in mein Zimmer. Er druckste kurz herum, es wäre ja eher peinlich für ihn, aber als Verantwortlicher für das städtische Leichenhaus könne er das nicht ignorieren. Lange Rede kurzer Sinn. Er fragte mich rundheraus, ob ich mir sicher wäre, dass der Tote von heute Morgen wirklich tot sei.

Da fiel mir nicht nur die Kinnlade herunter, sondern auch das Herz in die Hose. Ich malte mir die schrecklichten Szenarien aus. Schließlich war der schon eingesargt.

In Windeseile hetzte ich auf den Parkplatz, schmiss mich in mein Auto und fuhr zur Leichenhalle.  Ich stürmte hinein und fand erst mal keinen Sarg.

Mittlerweile war der Leichenhallenverantwortliche nachgekommen und meinte, er hätte den Sarg eben mal in einen Nebenraum geschoben und abgeschlossen, man könne ja nie wissen.
Was »man nie wissen könne« fragte ich nicht nach. Statt dessen verlangte ich mit bleichem Angesicht, vielleicht schlotterten, meine Knie auch ein wenig, den vermeintlichen nicht toten Leichnam zu sehen.

Friedlich lag der Verstorbene im Sarg. Der Verantwortliche meinte, er sei deswegen zu mir gekommen, weil er keine Leichenstarre feststellen konnte.

So langsam bekam ich wieder Farbe ins Gesicht.
Der Trottel hatte mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Dann meinte er auch noch mit süßsaurer Mine, ob ich ihn, also den Toten, nicht doch nochmal abhören wolle.

Wieder im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und dem ärztlichen Wissen erklärte ich dem Zweifler, dass eine Totenstarre bei so einem ausgemergelten Körper nicht unbedingt in vollem Ausmaß auftreten müsse und fragte ihn, warum er den Sarg nochmal geöffnet habe. Er habe was gehört, meinte er daraufhin.

Ich verkniff mir eine nicht schmeichelhafte Antwort und verlies wortlos das Haus der Toten.

Zurück im Krankehaus tuschelte der Pförtner mit zwei Krankenschwestern.
»Oh, der Herr Doktor hat wieder Farbe im Gesicht!«,
stellte eine der beiden fest, dabei kicherten sie ziemlich albern. Deshalb hieß ich sie »pubertierende Gänse«, worauf sie noch mehr kicherten.

 

 

Die Rosskur

Im Schwäbischen hatten wir einen wahrlich schlitzohrigen Hausmeister. Der war zu jedem Schabernack bereit. Wir, das hieß die Assistenzärzte, verstanden uns prima mit ihm. Er tat uns so manche Gefälligkeit und wir ließen uns auch nicht lumpen. Ein paar neoliberale Klugscheißer würden das heutzutage als Win-win-Situation bezeichnen.

So kam er eines Morgens zu mir auf Station mit feuerroten Augen. Sakrisch brennen würden sie und andauernd tränen.

Das sah nicht gut aus. So eine Bindehautentzündung, um die es sich offensichtlich handelte, musste dringend behandelt werden.

»Hast Du ein paar Augentropfen für mich?«
Natürlich hatten wir welche auf Station.
Ich griff in den Medikamentenschrank und nahm das erstbeste Flascherl aus dem Tropfenregal.

»Setz Di na!«, befahl ich ihm auf schwäbisch.***
Kopf zurück!«
Ich nahm das Flascherl und tropfte ein paar Tropfen in jedes Auge.
Kaum war die Applikation beendet, stand er auf und mermelte rum.
»Oh boa, das Zeugs brennt wie d’Sau. Mit beiden Händen rieb er seine Augen, die mir noch feuerroter vorkamen.

Ich schaute nochmal auf das Fläschen. Ich hatte daneben gegriffen und die Ohrentropfen erwischt. Ich wunderte mich beim Einträufeln schon, warum die so ölig waren. Allerdings war auch da ein Antibiotikum drinnen.

Er solle sich jetzt mal in die Werkstatt setzen und mit einem kalten Waschlappen beide Augen kühlen.

Heimlich stellte ich das verkehrte Flascherl zurück in den Schrank und gab ihm nun die richtigen Augentropfen mit.
Die müsse er noch mindestens drei Tage lang, mehrmals am Tag, einträufeln.

»Tun die immer so weh?«, fragte er mich. Ich meinte daraufhin, dass das nur beim ersten Mal so sei.

Mit einem knappen »Aha« und einem noch knapperen »Danke« schlich er sich wieder.

Am späten Nachmittag saßen wir zusammen in der Stationsküche und machten Brotzeit. Seine Augen waren schon wesentlich besser, dank der Rosskur.

Er fragte noch, ob ich heute Morgen nicht ein anderes Flascherl hergenommen hätte. Die Tropfen, die er jetzt habe, würden überhaupt nicht brennen.
Ich schwieg eisern und meinte nur, er solle sich nicht so anstellen. Er sehe ja, dass das Zeugs wirke.

***) Egal, wo man ist, so ein paar Brocken des landestypischen Dialektes muss man sich aneignen. In diesem Fall was es im bayrischen Schwaben, südlich von Augsburg.
Da hatte ich meine Lehrstunde in Sachen Dialekt.
Eine Bäuerin aus den »westlichen Wäldern«, auch vor Ort unter dem Namen »Stauden« bekannt, kam in die Ambulanz, machte ein griesgrämiges Gesicht und klagte:
»I han Wedage auf de Bridde!«
Der Ortskundige weiß mit den Ortsnamen Langenneufnach und Mickhausen sicher was anzufangen. Dort wird ein ganz besonderer Dialekt gesprochen.
Nun, die »Wedage« sind nichts anderes als Schmerzen und »de Bridde« ist der Fußrücken.
Ich musste nur einmal nachfragen, bekam die gleiche Antwort: »I han Wedge auf de Bridde« und wusste Bescheid. Test bestanden. »Ich habe Schmerzen am Fußrücken!«

Seitdem liebe ich dieses kantige Schwäbisch aus den westlichen Wäldern. Mit »westlich« ist natürlich westlich von Augsburg gemeint, welches im Volksmund »Datschiburg« genannt wird.

 

 

Alter Freund

»Wann ist es denn endlich vorbei?«
Große hohle Augen fixieren mich durch einen Schleier voller Schmerzen.
Die ersten Tropfen der schmerzstillenden Infusion kriechen in den ausgemergelten Körper.
Vor der Tür, zusammengekauert auf einem Plastikhocker, das Einzige, was in seinem Leben geblieben ist, die Tochter, die ihn die letzten Jahre umsorgte.

So gefasst war sie gewesen, so verzweifelt ist sie jetzt. Salzige Tränen suchen sich den Weg um die schlanken Backenknochen.
Sie hat nicht mehr die Kraft neben ihrem Vater zu sitzen.

Der Pfarrer ist verständigt, die Nachtschwester schaut immer wieder durch den schmalen Türspalt, nur den Kopf streckt sie herein. Der nahe Tod soll nicht hinaus.

Das Morphium beginnt seine barmherzige Wirkung.
Die zusätzliche Injektion habe ich vorbereitet.
»Sie sollen schlafen, ich geb’ ihnen was.«
Die heiße Hand sucht meinen Kittel, zieht mich näher.
»Lass mich noch einmal aufwachen, alter Freund, einmal nur noch.«

Sein letzter Wunsch ging nicht mehr in Erfüllung.

»Er ist heimgegangen« sagt der mittlerweile eingetroffene Pfarrer zur Tochter.
Die vielen Gespräche mit der Tochter, das Hoffen und das Wissen um den nahen Tod, vorbei.

Es ist alles gesagt.
Die Allerweltsformel »Mein Beileid« verkneife ich mir. Ein stummer von ihr zaghaft erwiderter Händedruck.
»Alter Freund« - hat er zu mir gesagt, - ich habe nur seinen Namen gekannt und seine Diagnose. Verlegen gehe ich an der Schwester vorbei.

 

 

Das Duell

Es war eine tolle Zeit. Allesamt waren wir doch noch rechte Kindsköpfe im wahrsten Sinne des Wortes.

An einem frühen Abend auf Station war die Arbeit für mich getan. Ich ging eine letzte Runde, um nach den Frischoperierten zu sehen.
Alles war friedlich, sämtliche Briefe diktiert, die Unterschriftenmappe leer. Ich hatte Bereitschaftsdienst.

In der Stationsküche saßen Schwester Maria, eine schon ältere Krankenschwester und Ruth, Schwesternschülerin im dritten Kurs. Beide hatten Spätdienst. Auf dem Tisch war frisch gewaschene und vorher auf der Heizung getrocknete Mullgaze ausgebreitet. Damals legte das Personal auf Station noch selber die Kompressen und Tupfer für die Verbände.

Ich setzte mich zu ihnen und half mit. Das war eine Tätigkeit, bei der man über alles Mögliche ratschen konnte.
Ruth und ich neckten uns, so wie es junge Leute überall auf der Welt tun, wenn sie sich sympathisch finden. Die Worte flogen hin und her, wir lachten und kuderten.

Schwester Maria schaute ab und zu erstaunt auf, wenn wir uns gegenseitig aufzogen. Für sie war ein Doktor eine Respektsperson. Maria kam aus einer anderen Zeit, da musste eine Schwester Abstand halten. Ein vertrautes »Du« war unmöglich. Unser Rumalbern war in ihren Augen befremdlich, wenn nicht sogar verwerflich.

Ruth und mich störte das nicht. Wir duzten uns schon ewig.
Irgendwie kamen wir auf Perubalsam zu reden und ob man sich damit auch duellieren könne.
Perubalsam ist eine dickliche dunkelbraune Flüssigkeit, die seinerzeit als Wundheilmittel verwendet wurde.

Ich bemerkte es schon zu Anfang, wir waren noch rechte Kindsköpfe.

»Du traust Dich garantiert nicht damit rumzuspritzen!«, behauptete ich provozierend.
»Ich trau mich schon!«, bekam ich prompt zur Antwort.

Ich ging wortlos ins Verbandszimmer, füllte zwei Blasenspritzen mit Perubalsam und legte eine davon vor Ruth auf den Tisch.
»Feigling!«
Sie schnappte sich das Teil und gab mir eine Breitseite, dann flüchtete sie rüber ins Stationszimmer. Ich folgte ihr mit der zweiten Spritze und setzte auch eine Ladung ab.
Danach kauerte ich mich Deckung suchend hinter meinen Schreibtischstuhl im Arztzimmer, Ruth war mir dicht auf den Fersen.

Das Duell dauerte, bis beide Blasenspritzen leer waren.
Wir schauten uns gegenseitig an und lachten hell auf. Die Schwesterntracht von Ruth war über und über mit Perubalsam besudelt und mein Kittel ebenso.

Nun sahen wir die weiße Wand hinter meinem Schreibtisch. Da gab es ein paar gehörige Querschläger.

Die wenigen Spuren auf dem Fußboden waren schnell weggewischt, aber die Wand. Da ging nichts mit dem Putzlappen. Ein Versuch von mir scheiterte kläglich. Das dunkelbraune Zeugs verschmierte mehr, als dass es wegging.

Nun schauten wir uns recht bedröppelt an und Schwester Maria stand in der Tür und lachte.

Am nächsten Morgen zitierte ich sogleich den Haumeister auf Station. Es war der, dem ich aus Versehen Ohrentropfen wegen einer Bindehautentzündung ins Auge träufelte.

Ich hätte gestern Abend mit Perubalsam rumhantiert, da sei mir das Malheur passiert.
Er besah sich die Sache, sagte ein paar mal im breitesten Schwäbisch: »Hanoi, a so a Sauerei!«, schmunzelte und meinte furztrocken: »Hano, des hen mer glei!«
Dann drehte er sich um und sagte zu Ruth, die gerade im Moment durch die Türe schaute: »Du hoscht no ebbs Braunes an de Backe!«
Die wischte sogleich hektisch im Gesicht herum, dann ging sie mit hochrotem Kopf zum Spiegel.
Da waren natürlich keine verräterischen Spuren mehr von unserem Duell.
Unser Hausmeister meinte nur, er hätte sie gestern Abend mit ihrer versauten Schwesterntracht über den Hof ins Wohnheim flitzen sehen.

Zwei Stunden später war die Wand wie neu.
Schwester Maria hielt dicht und unser Hausmeister auch.

Tage später wurde frisch aufgebackener Leberkäse mitsamt Bier und Brezn in die Werkstatt geliefert.

 

 

Die Bedrohung

 Den ganzen Abend ging es hektisch zu. Ich war ewig in der Ambulanz beschäftigt, und auch die stationären Patienten ließen mich nicht zur Ruhe kommen.
Endlich, kurz vor Mitternacht wurde es ruhiger. Ich hatte mal wieder Bereitschaftsdienst.

Zusammen mit zwei Nachtschwestern saß ich in der Stationsküche auf einer inneren Station im 1. Stock. Schräg vis-a-vis ging es über den Flur zur Intensivstation.
Der Kaffee war gerade am Durchlaufen, als wir es hörten:
»Hiiilfeee!«
»Was war das?«, fragte Schwester Jutta? Gespannt lauschten wir hinaus in den Flur. Es ist ja nichts Ungewöhnliches, wenn ein vielleicht verwirrter Patient im Halbschlaf oder auch noch wach, um Hilfe schreit.

Da war es wieder: »Hiiiilfeee!«
Wir hörten kein mickriges Stimmchen, eher einen satten Bassbariton.
»Das kommt aus der Intensiv!«, meinte Jutta.
»Wir schauen mal nach, was da beim Konrad los ist!«
Konrad war der diensthabende Pfleger auf der Intensivstation.

Ich habe den Anblick heute noch so vor Augen, als sei es erst gestern gewesen.

Pfleger Konrad, ein Zweimetermann, breit wie ein Schrank, stand in der hintersten Ecke einer Intensivbox, beide Hände abwehrend von sich gestreckt.

Vor ihm schwankte ein mickriges Mandei, das sich am Fußende des Bettes festhielt, sonst wäre es umgefallen. Die Infusion war herausgerissen, die ganze Soße tropfte auf den Boden. Dort lag auch das EKG Kabel. Die Sauerstoffmaske baumelte um den Hals.
In der rechten Hand hielt das schwankende Etwas ein Besteckmesser und fuchtelte damit wie wild in der Luft herum.
Sein Flügelhemd war, wie alle Flügelhemden dieser Welt, hinten offen, sodass wir freie Sicht auf ein runzeliges und verschissenes Oascherl hatten.
»I bring Di um! Hosch mi!«, ließ sich ein verwaschenes und durchaus zartes Stimmchen vernehmen.
Dazwischen der gut intonierte Bassbariton von Pfleger Konrad: »Hiiilfeee!«

Es war ein Bild, wie man es nicht alle Tage sieht.

Schwester Jutta packte das verschissene Matschgerl hinten am Flügelhemd, hob es freihändig ins Bett und entriss ihm anschließend das brandgefährliche Besteckmesser.

»Wasch Konni, Du bisch a na segglbleedr Seggl!« ***,
 Sagte Schwester Jutta zu ihrem Kollegen, der immer noch bibbernd in der Ecke stand.
*** hochdeutsch: »Weißt Du Konrad, Du bist ein wirklich blöder Hund!«

Der Seggl bekam so langsam wieder Farbe ins Gesicht und meinte, so durchgedrehte Patienten könnten schon mal ungeahnte Kräfte freisetzen und mit einem Messer sei sowieso nicht zu spaßen.

Mittlerweile lag der potentielle Messermörder wieder friedlich im Heiabettchen und fliretete mit Schwester Jutta.
»Bisch a blitzsaubars Mädle, di dad i a no vernasche!«

Die Antwort kam prompt:
»Oh Mandei, so viel Sauerstoff hat die ganze Intensivstation nicht, die du danach brauchen tätest!«
Natürlich sagte Jutta das alles auf Schwäbisch. Sowas kann man leider nicht in einem niedergeschriebenen Text festhalten.

Nachtdienste in einem Krankenhaus haben ihre eigenen Gesetze. Das ist im Schwäbischen nicht anders als im Niederbayrischen. Wer das nie miterlebte, kann sich keine Vorstellung davon machen.

 

 

Zu fett!

»Also, Herr Chefarzt, eines muss ich ihnen jetzt schon mal sagen!«
Aha, denke ich für mich, klingt nach Beschwerde, nach Dampf ablassen!

Eine resolute Mittvierzigerin pflanzt sich vor meinem Schreibtisch auf, die Ambulanzkarte, besser, meine Patientenaufzeichnungen hält sie in der linken Hand, mit der rechten deutet sie auf ein Blatt, das offensichtlich der Grund für ihre Aufregung ist.

Ich bitte die Dame, Platz zu nehmen.
Schnurstracks gehe ich zum Waschbecken, wasche sehr gründlich meine Hände. Ein Arzt kommt immer gut an, wenn er sich vor dem Patienten seine Hände wäscht, eine uralte Medizinerweisheit. Und noch viel wichtiger, während dieser Zeit kann er seinen Patienten beobachten.

In diesem Falle ist es, wie gesagt, eine Patientin. Fast attraktiv, wenn da nicht die zu vielen Pfunde wären. Roter Rollkragenpulli, schwarzer Rock, der bis zu den Knöcheln reicht. Kurz geschnittene brünette Haare, volles hübsches Gesicht. Grünbraune Augen funkeln herüber zu mir an’s Waschbecken. Ihr Dialekt verrät sie als Österreicherin.

Sie kommt gerade von meinem Kollegen Dr. Werner Bauer, der ist für die Ultraschalluntersuchungen zuständig.
Offensichtlich ist Werner auch der Grund für ihre Aufregung.

»Herr Chefarzt, ich verlange, dass dieser Befund da drinnen wegkommt!« Mit »da drinnen« meinte sie die Ambulanzkarte mit den Aufzeichnungen über ihre Untersuchung.

Sie knallt mir die Unterlagen auf den Schreibtisch und bleibt vor mir stehen.

Oh je, da steht es. Deutlich sticht die Bemerkung aus den Aufzeichnungen heraus. »Zu fett!« Und das auch noch unterstrichen. Und dann hat der Dussel der Patientin auch noch die Unterlagen mitgegeben.

Ganz vorsichtig lote ich meine Versöhnungschancen aus.
»Ach, Frau Obermaier, der Dr. Bauer hat das mal so dahingeschrieben!«
Sie fällt mir sofort ins Wort.
»Dass ich ein paar Pfunde zu viel draufhabe, weiß ich selber. Aber gleich solch eine Beleidigung!«

Jetzt holt sie noch mal Luft, danach braust ein Lamento über mich.
»Ich esse eh kaum noch was, mache eine Diät nach der anderen, aber Herr Chefarzt, ich kann machen, was ich will, ich trau mich schon gar nicht mehr auf die Waage!«

Die Pause zum Luftholen nutze ich aus.
»Ich streiche das durch. Im endgültigen Bericht an ihren Hausarzt steht nichts mehr drin!«
Jetzt bringe ich mein schlagkräftigstes Argument an.
»Wir beide können unsere Pfunde ja nicht verstecken!«

Das wirkt! Auch bei mir helfen diverse Diäten nur ganz bescheiden.
Als Leidensgenosse werde ich von Frau Obermeier akzeptiert.
»Hat er außer den paar Pfunden zu viel auch noch was anderes gefunden«, will ich jetzt wissen. Unter den leichtsinnig hingeschriebenen Worten steht nämlich noch was von Gallensteinen.

»Niemand hat bisher bei mir Gallensteine gefunden!«
»Jetzt vergessen sie mal ihren Babyspeck!«
»Jetzt machen sie sich auch noch lustig über mich!«, flötete mir Frau Obermeier entgegen und schaut gekränkt.
»Ach was, Frau Obermaier, niemand will sich lustig machen! Sie haben doch schon länger diese Koliken?«

Die Tür geht auf, Dr. Bauer stürmt herein.
Ganz Dame würdigt meine Patientin den Übeltäter mit keinem Blick. Er legt mir die Ultraschallbilder vor und wendet sich mit einem unschuldigen Allerweltsgesicht an sie.
»Ne ganze Menge Steinchen haben sie in Ihrer Gallenblase! Am besten die operieren wir bald raus. Allerdings wäre es besser wenn sie ein paar...!«
Mein bohrender Blick hinauf an die Decke lässt ihn stutzig werden.
Mitten im Satz bricht er ab.
»... Pfunde abspecken«, verkneift er sich.
Statt dessen ergänze ich »ein paar zusätzliche Untersuchungen machen lassen, damit wir sie recht bald operieren können!«

»Wenn ich mich operieren lasse, dann nur vom Herrn Chefarzt, sie lasse ich sowieso nicht mehr an meinen Bauch!«
Peng, das sitzt! Werner schaut verwundert. Mit verschwörerischer Mine lächelt sie mich an und dreht ihm den Rücken zu. Mit einem Schulterzucken geht er hinaus.

»Ich weiß schon, was der sagen wollte!«
»Hat es aber nicht!«, falle ich ihr ins Wort.
»Ich komme dann zu Ihnen ins Krankenhaus, wenn der Schnösel in Urlaub ist!«
Gemeinsam schauen wir im Kalender nach, planen die Operation während Schnösels Urlaub.

Mit einem herzhaften Lachen verabschiedete sich Frau Obermaier von mir.
Elegant umkurvt sie meine Sekretärin, die gerade ins Zimmer kommt.
»Sie können froh sein, dass sie so einen dollen Chefarzt haben, der Dr. Bauer ist nämlich ein Depp!«

 

 

Die unheimliche Begegnung

Ich hatte mal einen Kollegen. Der übernahm vor vielen Jahren eine chirurgische Chefarztstelle an einem Kreiskrankenhaus.
Das klappte mehr schlecht als Recht. Mal war ihm das zu viel, mal das andere zu wenig. Mit dem Personal konnte er nicht und die Organisation lies auch zu wünschen übrig.
Ich hatte das alles mitbekommen, weil er sich immer mal wieder bei mir ausheulte. Selbst ein paar Hospitationen an meiner Abteilung zeigten nicht den erwünschten Erfolg.

Schon bald war klar, er konnte die Chefarztstelle nicht halten. Der Krankenhausträger, eine kommunale Einrichtung, schwerfällig wie d’Sau, kapierte es schließlich auch. Man trennte sich in beiderseitigem Einvernehmen.
Das sollte man, wann immer es möglich ist, so machen.

Wir verloren uns aus den Augen, bis die Zertifizierungshysterie über die bundesdeutsche Krankenhauslandschaft hereinbrach.
Das war jetzt »IN«. Ohne Zertifizierung warst Du eine Krücke, ein NO GO, ein überalterter Methusalem. Mit anderen Worten, ohne Zertifizierung konntest Du keine gute Medizin mehr machen.

Also sprießten überall private Zertifizierungsagenturen, selbstverständlich nach DIN-Norm und staatlich ausgelobt,  wie Pilze aus dem Boden.

Dann war es auch in meiner Abteilung soweit. Ich sagte mir, das sei halt dem Fortschritt geschuldet und nun mal so üblich. Meine chirurgische Abteilung brummte, schrieb gute Zahlen und war vor Ort durchaus angesehen. Ich brauchte vor nichts zu Kuschen.

Irgend ein »Zertifizierungsbeauftragter« aus den Reihen unserer Verwaltung, der in ein paar Wochenendlehrgängen zum Fachmann mutierte, übernahm das Training.
Jetzt hieß das ganze Qualitätsmanagement und so Begriffe wie »ISO 9001« und »KTQ« waren plötzlich furchtbar wichtig. Neben einer Erstzertifizierung gab es Rezertifizierungen, bei denen die oben bereits erwähnten »Agenturen« prächtig Kasse machten.

Ganze Horden von Zertifizieren tummelten sich in regelmäßigen Abständen im Krankenhaus.

Was früher bei uns in der Chirurgie schlicht und einfach»Ablauforganisation« hieß, wurde nun in viele Begriffe aufgesplittert. Ich will sie mit diesem Schmarrn nicht langweilen. Das sind endlos lange, meist nichtssagende Listen mit viel Unsinn drinnen.
Da war von Kundenzufriedenheit die Rede. Plötzlich wurden unsere Patienten Kunden.
Alles Mögliche und Unmögliche wurde messbar gemacht.
Das klappte natürlich nicht, dann nahm man halt fiktive Zahlen an.
Über allem schwebte der Mammon. Mein hervorragendes Personal wurde heimlich und leise zum Kostenfaktor und der Patient, sorry Kunde, zur Melkkuh.

Dann kam eine unheimliche Begegnung:
Sie erinnern sich noch an meine Anfangszeilen?
Es kam zum Abschlussgespräch über das ganze Zertifizierungsgedöns. Und wer kam munteren Schrittes in mein Zimmer?
Sie erahnen es!
Er meinte, er sei jetzt voll und ganz in die Zertifizierung eingestiegen und habe mit der Chirurgie nichts mehr am Hut.

Nun wollte sich der Herr Kollege Zertifizierer mit mir über Organisationsdefizite in meiner Abteilung unterhalten. Er zückte ein Schnellhefter, voll mit Formularen und Listen. Wenn es damals schon Notebooks gegeben hätte, dann hätte er sicher statt Schnellhefter so ein Dings vor sich liegen gehabt.

»Du?«, ich musste einfach lachen.
»Du willst mir etwas über Organisationsdefizite in meiner Abteilung erzählen?«
Verwundert schaute er mich an und meinte:
So ein Abschlussgespräch sei nun mal zwingend bei einer Erstzertifizierung vorgeschrieben.

»Wir können uns über alles Unterhalten, können einen Kaffee miteinander trinken oder ein Bier. Ich besorge Dir sogar eine Brotzeit. Aber eines sag ich Dir! Keinen Ton über meine Organisationsdefizite, sonst schmeiß ich Dich hochkant raus!«

Er blieb sitzen, packte seine Schnellhefter wieder ein und meinte, jetzt habe er endlich mehr Zeit Golf zu spielen.

 

 

Der Skiunfall

An den Winterwochenenden vor vielen Jahren fuhren meine Söhne öfters mit dem fürstenzeller Skiclub nach Mitterfirmiansreut.

So war es auch an einem wunderschönen Sonntag.
Die werden sich richtig austoben und abends todmüde ins Bett fallen, sagte ich mir.

Dann kam in den Nachmittagsstunden ein Anruf der Rettungsleitstelle.
In einer halben Stunde würden sie meinen Sohn Martin zu mir ins Krankenhaus bringen. Er sei am Schlepplift gestürzt und habe sich einen Unterschenkelbruch zugezogen.

»Oha!«, dachte ich erst mal, dann machte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus.

Ich malte mir das Szenario droben im Bayerwald aus. Ausgerechnet dem Sohn des Chefarztes passierte das. Da wollte man natürlich kein Risiko eingehen. Mit optimaler Versorgung musste der Transport in die Wege geleitet werden.

Wenig später fuhr der Sanka vor. Auf einer Vakuummatratze lag mein Sohnemann. Da war nichts mit schmerzverzerrtem Gesicht. Mit einem vielsagenden Grinsen begegnete er meinem besorgten Blick.

Einer der Sanitäter meinte, es sei das linke Bein.

Ich sah mir die Sache an. Martins linker Unterschenkel lag locker über dem rechten Unterschenkel. Die Kuhle in der Vakuummatratze verriet mir allerdings, dass das linke Bein zunächst ganz normal neben dem Rechten lag.

Das stimmte was nicht! Nie und nimmer konnte jemand seinen gebrochenen Unterschenkel aus der Vakuummatratze herausheben und auf sein gesundes Bein legen.

Martin konnte es.

Eine kurze Untersuchung bestätigte meine soeben getroffene Feststellung. Ein blauer Fleck direkt über dem Schienbein war alles.

»Du stehst jetzt sofort auf, räumst Deine Skier in mein Auto und trollst Dich nach Hause!«

Gesagt, getan.
Ich gab Sohnemann den Autoschlüssel, dann war er auch schon mitsamt Rucksack und Skiausrüstung verschwunden.

Stumm schauten die Sanitäter meinem Treiben zu.
In Ihren Gesichtern spiegelte sich blankes Entsetzen.
»Rabenvater!, hat der sie noch alle?, ds gibt es doch nicht!«, laß ich in ihrer Mimik.

Damit der Bürokratie genüge getan wurde, quittierte ich den Krankentrasport und bot den Sanis noch einen Kaffee an, den sie dankend ablehnten.

Damit war die Episode nicht zu Ende.
Wochen später kam die Rechnung des Roten Kreuzes über den Transport mit dem Rettungswagen.
Die reichte ich meiner Krankenkasse ein und erhielt wenig später einen Brief.

Sie könnten das nicht begleichen, da ja keine Rechnung über die Behandlung dabei sei.

Ein Anruf meinerseits mit dem Argument, ich würde meinem Sohn wohl keine Rechnung stellen, konnte die Versicherungsmenschen nicht befriedigen. »Ohne Behandlung keine Übernahme der Transportkosten!«

Also schrieb ich meinem eigenen Sohn eine Rechnung mitsamt Untersuchung und Sonntagszuschlag. Siehe da, nun bezahlten sie beides, den Transport und die »Behandlung«!

 

 

Abschneiden geht immer

Die nächste Geschichte ist fast a bisserl unanständig, trotzdem muss sie erzählt werden:

»Komm sofort hoch!«
Das war mein Oberarzt Werner am anderen Ende der Leitung. Ich saß am frühen Abend, es war noch hell, beim Mayerwirt und Werner hatte Dienst im Krankenhaus.
Aufgelegt. Keine Erklärung, was denn los sei! Das war ich von ihm nicht gewohnt.
»Komm sofort hoch!«, schrie er fast ins Telefon, sonst nichts.
Da muss was Schlimmes passiert sein.

Ich fuhr hoch ins Krankenhaus, rannte vorbei an der Pforte, in der unsere Schwester Judith, eine alte Nonne, noch stundenweise Dienst tat.
Im Eingriffsraum hörte ich Stimmen. Da musste jemand schlimme Schmerzen haben.

Dann sah ich das ganze Malheur.
Aber erst mal der Reihe nach.

Ein junger Mann kam mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber noch zu Fuß, ins Krankenhaus. Er brauche dringend einen Arzt, stöhnte er. Schwester Judith wollte aber genauer wissen, um was es denn ginge. Der Knabe rückte damit nicht raus, stöhnte statt dessen, und flehte sie an, endlich einen Arzt zu holen. Mittlerweile war eine Schwester vom ersten Stock runtergekommen und bugsierte den Leidenden in den Eingriffsraum unserer Ambulanz. Der diensthabende Doktor, nämlich Werner wurde herbeigerufen.
Der, rief mich nach einer ersten Schrecksekunde sofort an.

Der junge Mann hatte schon eine Infusion am Arm, und einiges an Schmerzmittel intus. Jedenfalls wurde das Wimmern leiser.
»Anästhesie ist schon unterwegs!«, informierte mich Werner. Die beiden OP-Schwestern kamen fast zeitgleich mit mir.

Da sprang ein pralles blaues Ding aus der heruntergelassenen Hose, was nur durch die eindeutige Körperregion als Penis identifiziert werden konnte. Um den Schaft war ein gusseiserner Ring. Der ging nicht mehr runter.

»Scheiße, das tut weh!« Ich stand ratlos davor.
»Ich kann dem doch den Pimmel nicht abschneiden!«
Werner stand neben mir.
»Schosi muss her!«
Schosi ist unser Hausmeister und für alle Notlagen der richtige Mann.

»Dem Urologen hab ich noch nicht Bescheid gegeben!«!
Meldete sich Werner wieder.
»Abschneiden kann ich selber! Den brauchen wir nicht!«

Es gibt in eindeutigen Fachgeschäften diverse Ringe für allerlei Sexspiele. Die sind aber aus Gummi und können jederzeit entfernt werden.
Unser Ring hatte eine Dicke von, na ja, sagen wir knapp einem Zentimeter und war aus Gusseisen. Normalerweise verriegelte er eine herunterklappbare Bordwand am Tracktoranhänger.

Mittlerweile schlief der Unglücksrabe dank der eingeleiteten Narkose.

Dann hörte ich ein »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott!«, und Schwester Judit trippelte wieder zurück in ihre Pforte.

Schosi stand in der Tür, betrachtete sich die Sache sehr genau und sagte: »Der geht nur mit einer Flex runter!«
Schon war er in seiner Werkstatt verschwunden und kam wenig später mit einer Riesenflex daher.
Es war unmöglich, dieses Trum mit einer Hand zu führen.
»Schosi, die ist zu groß, ich brauche was Kleineres!«
»Mein Schwager hat eine Kleine!«, und schon war er unterwegs zum Schwager.

Mittlerweile bekam der Lustspender Ähnlichkeit mit einer Blutwurst. Wir mussten uns beeilen.

Die kleine Flex war ideal. Werner hielt die pralle Blutwurst fest und zog sie im richtigen Winkel vom Körper weg und ich setzte die Trennscheibe an.
»Das wird heiß!«, bemerkte Schosi.
»Wasser!«
Nun schüttete eine OP-Schwester andauernd Wasser zum Kühlen über Ring und Pimmel.

Die Funken stoben vom OP-Tisch und da die Tür rüber zur Ambulanz offen war, stoben sie auch noch hinaus auf den Flur.
Schwester Judith stand kreidebleich in der Pforte und wiederholte immer wieder ihr »Jesses-Maria, Jesses-Maria!«
Dann fing sie an den Rosenkranz zu beten.

Wir arbeiteten uns Millimeter um Millimeter vor. Immer wieder legten wir eine Pause ein, da der Ring trotz reichlich Wasser verdammt heiß wurde.
Nun war er durch.

Ha, Pustekuchen. Da war nichts mit Aufbiegen und so. Gusseisen lässt sich nicht biegen. Also, nochmal die ganze Prozedur mit Flex, Wasser, Funken, Kühlen, Warten!

Bei dem permanenten Wassergeprutschel hatte ich die ganze Zeit Angst eine gewischt zu bekommen.

Nach einer guten Stunde war alles überstanden. Der Ring lag in zwei Teile zerschnitten in voller Unschuld auf dem Instrumententisch.

Die Blutwurst verlor so langsam ihre tiefblaue Farbe.
»Meinst Du, der geht nochmal?«, fragte Schosi und verräumte dabei die Flex seines Schwagers.

»Abwarten!«, sagte ich. Dann klatschten wir uns nach dieser gelungenen Aktion alle ab.
Wenig später wurde der Patient, noch schläfrig von der Narkose, mit dem Bett auf Station gefahren und ich trank noch ein Weizen beim Mayerwirt.

Nachzutragen wäre noch:
Das Ganze ging ohne die kleinste Verletzung ab. Nach wenigen Tagen war die Funktionalität vollständig wiederhergestellt, wie mir der junge Mann bei einer Kontrolluntersuchung glaubhaft versicherte.

Zwei Kinder, ein Bub und ein Mädchen, dem Vater wie aus dem Gesicht gerissen, waren der unumstößliche Beleg dafür. Und weil die Zeit wie in Windeseile vergeht, sind auch diese beiden Beweismittel mittlerweile erwachsen und haben selber Kinder.

 

 

Wenn ein Notarzteinsatz zum Drama wird

Es gibt Erlebnisse, die brennen sich ein Leben lang ins Gedächtnis ein. Sie lassen einem auch heute noch das Blut in den Adern gefrieren.

Der Anruf kam gegen 19 Uhr. Auf der Landstraße kurz vor Langerringen ein Verkehrsunfall. Motorrad gegen LKW, ein Schwerverletzter.
Franz, ein erfahrener Rettungssanitäter biss ein letztes Mal in seine Leberkassemmel, dann schwang er sich hinter das Steuer des Rettungswagens. Der Motor heulte auf. Mit Blaulicht und Martinshorn ging es hinaus in die einbrechende Nacht.
»Scheißnebel!«, fluchte er leise vor sich hin. Zusammen mit einem ehrenamtlichen Sanitäter saß ich neben ihm auf der Sitzbank.
Der Nebel war brutal.

Nach wenigen Kilometern erkannten wir schemenhaft einen LKW, der mit dem Führerhaus im Straßengraben hing.
Ein schweres Motorrad lag total demoliert teilweise unter dem linken Vorderrad.
Zwei PKWs standen am Straßenrand.
Ein Mann winkte mit einer Taschenlampe.

Auf dem Kiesbett wenige Meter neben dem LKW lag der verunfallte Motorradfahrer. Eine Frau und ein Mann beugten sich über ihn.
Wir sprangen aus dem Rettungswagen. Franz, unser Fahrer, war leichenblass.
Sie hatten den Verletzten in die stabile Seitenlage gebracht.

Im Scheinwerferkegel unseres Rettungsfahrzeugs sah ich einen jungen Mann, die Lederjacke zerfetzt. Aus dem Hemd quoll Blut. Als ich den Verletzten auf den Rücken drehte, um ihn zu intubieren, kam ein Schwall Blut aus dem Mund. Der Hals war aufgerissen.
Aus der klaffenden Wunde kam ein Röcheln. Der Brustkorb war nur noch ein instabiles Etwas. Er bewegte die Lippen. Ich sah in weit aufgerissene Augen.

Franz stand etwas abseits und übergab sich.

Da war nichts mehr mit Intubieren. Ich griff nur noch in eine blutige Gewebemasse.

»Michael!«, Franz stieß mich zur Seite. »Michi!«
Er nahm das Gesicht des Sterbenden in die Hände. »Michi!«
Dann schrie er ein letztes Mal den Namen seines Sohnes in die Nacht.

 

 

Eine Lehrstunde über das Totsein

Wie das in unserer modernen Welt so üblich ist, hat man mit dem Leben schon seine liebe Not, so kennt man sich beim Sterben gleich gar nicht aus.

Als blutjunger Assistenzarzt wurde ich zusammen mit zwei Rettungssanitätern aus dem Klinikalltag hinauskatapultiert auf eine schmale, kurvenreiche Landstraße hinauf in den Wald. Für die Einheimischen ist es »d‘ Woid«, das Waldgebirge östlich der Donau.
Durch das enge Tor ging es hinein in den Hof, vorbei am Hundezwinger, abgeschaltet wurde Blaulicht und Martinshorn erst vor dem Wohnhaus. Das Hundegebell dauerte an, erst auf einen Pfiff hin beruhigte sich der Köter.

»So viel Krach ist er nicht gewohnt«, meinte ein stämmiger Mann an der Haustüre. »D‘ Oma, hinten in der Kammer«. Mit dem Arm deutete er ins Haus hinein. Der Rettungsassistent, der Fahrer und ich rannten ins Haus, durch die Wohnstube über eine Holzschwelle hinein in die halbdunkle Kammer. Die Bettdecke zurück, leblos lag die alte Frau in den Kissen. Venöser Zugang, Schläuche, EKG, Intubation, Beatmung, Herzmassage. Ein eingespieltes Rettungsteam schaffte das mit links. Das lief ab »wie an der Schnur gezogen«, professionell, der Beatmungs-Beutel wechselte sich im Takt ab mit der Herzmassage. Ein Metronom konnte nicht genauer sein.
Bei all dem Reanimationszauber, wir waren mit der Toten alleine im Zimmer, da tat sich nichts. Elektroschock, - nichts - weiter, sie war tot. Starre Pupillen, eine zierliche Frau, eingefallen die Gesichtszüge mit tiefen Furchen. Die Herzmassage stockte, weitermachen? - Der Beatmungsbeutel verharrte.
Da ging die Tür auf, der stämmige Mann von der Haustüre, offenbar der Sohn der Toten, stellte drei Flaschen Bier rein: »Wenn‘s dann so weit seid!«
Wir schauten uns an - was is‘ jetzt?

Auf Antwort mussten wir nicht lange warten. Ein älterer Herr, Jeans, dunkler Rolli, die typische Doktortasche am Arm. »Grüß Gott, - Kollegen - Dr. Bichler«, so stellte er sich vor. Ah, - wohl der Hausarzt der Alten. Ich im weißen Kittel, provozierend das Stethoskop in der Tasche. Verdutzt streckte ich ihm die Hand entgegen.
»Hört auf, - d‘Bäuerin is‘ e scho dod!«, sagte er halblaut hinüber zu den Sanitätern. Er nahm meine Hand, schüttelte sie kräftig und zog mich raus in die Bauernstube, rüber zum Tisch und drückte mich in einen Stuhl. Fünf Stamperl wurden eingeschenkt, - hinunter damit, - fruchtiger Marillenbrand, das Zeug wärmte alles zwischen Mund und Magen.

»Um diese Zeit mache ich immer meine Runde - Hausbesuche«, schob er erklärend nach.«

»Hab‘ bei Dir angerufen, wegen der Oma«, mischte sich jetzt der Bauer ein. »Einen schönen Zirkus habt ihr veranstaltet«, sagte er, und schaute mich spöttisch an.
Der Hausarzt, er kannte die Leute seit Jahrzehnten hier am Hof, erzählte: »Seit einem Monat habe ich eine neue Arzthelferin, hat erst vor kurzem aus München hierher geheiratet, solide, ordentlich, macht ihre Arbeit anständig, kennt sich aus.«
Mit diesen Worten beschrieb Dr. Bichler seine neue Kraft.

»Nun ist Dein Anruf gekommen«, erzählte Bichler weiter, »das Mädchen wusste nicht, was es machen soll, hat gleich die Rettungsleitstelle informiert und die haben den Notarzt geschickt«.
Dabei nickte er zu mir rüber.

»Ihr habt ja allerhand drauf«, so der Bauer, »wenn‘s da mal drauf ankommt, Freunde, auf euch kann man sich verlassen.«
Er streckte den beiden Sanitätern das Tablett mit den Stamperl entgegen. »Marille, was guad`s!«
Nach einem Zögern nahm auch der Fahrer seinen Schnaps, schaute mich erstaunt an, merkte, dass auch ich einen gekippt hatte, und - weg war er!

Erst jetzt glaubte Dr. Bichler, uns eine genauere Erklärung geben zu müssen.
»D‘ Bäuerin, wär‘ demnächst Zweiundneunzig geworden, war seit langem krank!«
»Mit dem Sterben haben wir schon seit Tagen gerechnet«, mischte sich der Bauer ein, »ich war den ganzen Tag im Holz, meine Frau ist seit heute Morgen in der Stadt. Am Nachmittag dann, ich schau‘ in die Kammer, ist d‘ Oma tot. Ich wusste jetzt auch nicht was ich machen muss, mit dem Totenschein und allem, - da habe ich Dich halt angerufen!«

Ein vorwurfsvoller Blick traf Dr. Bichler. Der Hausarzt und langjährige Kenner des Hofes schmunzelte, schaute dem Bauern listig ins Gesicht:
»Und wenn nachher d‘ Oma bei all dem Spektakel nochmal aufgewacht wäre?«
Ein Schubser des Bauern bugsierte Bichler auf die Eckbank hinter dem Tisch.

Mit den Sanitätern zusammen verließ ich die Bauernstube, der Hund kläffte dem Sanka hinterher. Die kurvenreiche Strecke hinunter nach Passau dauerte. »Jo im Woid, mein Lieber«, war der einzige Kommentar des Sanitäters auf der schweigsamen Fahrt.

Die Pille und die Versuchung
Der erste Tag
Ein Satz für’s Leben
Wenn einem das Herz in die Hose rutscht
Die Rosskur
Alter Freund
Das Duell

 

Die Bedrohung

Zu fett!

Die unheimliche Begegnung

Der Skiunfall

Abschneiden geht immer

Wenn ein Notarzteinsatz zum Drama wird

Eine Lehrstunde über das Totsein

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