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   - Der letzte Gigolo

   - Der Neue

   - Waldeslust

   - Der Eisenbahnwaggon

 

 

Der letzte Gigolo

 

»Donnerlottchen« entfuhr es Eddy, als er die Brünette die Treppe heraufkommen sah. Kein Begleiter weit und breit, na da macht der Beruf doppelt Spaß. Sicher, sie war nicht mehr die Allerjüngste, aber sie sah blendend aus. Ganz Gentleman positionierte er sich an der Bar und drehte spielend sein Glas auf der Theke. Es war Kamillentee drinnen, Alkohol während des Dienstes war nicht gerade verboten, aber er trank nie Alkohol während der Arbeit.

 

Eddy war Animateur auf dem Schiff und verantwortlich für den Tanzsalon auf dem Oberdeck. Jeden Abend betanzte er alleinstehende Damen und übte sich dabei in vornehmer Zurückhaltung. Das Trio Paranoia, zwei Männer, der eine mit Halbglatze, der andere mit Vollbart und eine Frau mit Bubikopffrisur in grellen Leggins, baute gerade die Instrumente auf. Die Tische waren so früh am Abend nicht mal zur Hälfte besetzt, aber das würde sich bald ändern.


»Sie sind Eddy«, Sie stand neben ihm und sprach sogar seinen Namen richtig aus. Eddy mit zwei D und einem Ypsilon. Darauf legte er größten Wert. Ein langgezogenes E mit einem schalen D konnte er nicht ab. Gerade die Wiener mit ihrem schwurbeligen Zungenschlag brachten ein besonders widerwärtiges »Eediii« hervor. Aber sie hatte die richtige Phonetik, ein klares, exaktes E mit zwei wundervoll gesprochenen Ds dahinter. »Willkommen an Bord gnädige Frau, sie kennen meinen Namen?« Die dunkelblaue Samtschleife verlieh ihm eine antiquierte Noblesse, die ihm gut stand. »Sie sind eine Institution auf dem Schiff, mein Lieber.« Ihr Lächeln war zauberhaft. Hörte er da den Hauch einer italienischen Sprachmelodie? Er bemerkte das bei ihrer Aussprache von »Schiff«. Da klang fast lautlos ein weiches E dahinter. »Danke für das Kompliment Signora.« Spontan war er von der gnädigen Frau zur Signora gewechselt. »Versprechen sie mir heute Abend einen Walzer?« Eine Antwort wartete sie erst gar nicht ab. Mit einem »Ciao Eddy«, da war es wieder, dieses lustvolle E mit den phonetisch so stark geprägten zwei Ds, ließ sie ihn an der Bar stehen.
 

Mittlerweile waren alle Tische besetzt. Sie saß in der zweiten Reihe und nippte an einem Glas Prosecco. Das Trio Paranoia begann mit dem Walzer »Donau so blau«. Noch bevor Eddy den ersten Schritt in Richtung Signora tun konnte, wurde sie von einem feisten Herren im beigefarbenen Sakko aufgefordert. Ursprünglich war der Walzer »An der schönen blauen Donau« betitelt, ein erst später dazu gedichteter Text fängt mit »Donau so blau« an. Der beigefarbene Sakko konnte nicht tanzen. Er trippelte und trappelte auf dem Parkett herum, es war zum Erbarmen.  Immer mehr Paare drehten sich im Walzertakt. »Donau so blau ...« Eddy ging an die Arbeit. Er forderte eine blasse Mittfünfzigerin auf, die, wie sich bald herausstellte, richtig gut tanzen konnte. »Donau so blau ...« Eddy überquerte mit seiner Dame im linksherum die Tanzfläche. Die frisch ondulierten Haare, der schmale Oberlippenbart verliehen ihm eine Aura von oberösterreichischem Landadel, dabei war er ein waschechtes Ruhrpottgewächs aus Bottrop, der mit richtigem Vornamen Edelbert hieß.  Der Vollbart an der Orgel hob die Hand, der letzte Akkord hallte nach, dann kam verhaltener Applaus auf. Das beigefarbene Sakko und die Signora waren verschwunden.


Eddy lies nur wenige Tanzrunden aus. Er brachte es auf fünf Gläser Kamillentee und vierzehn Tanzpartnerinnen. Nur einen einzigen Korb bekam er. Wenig später stellte sich allerdings heraus, dass die Dame an Unterzucker litt und eilig in den Sanitätsraum gebracht werden musste. Das beigefarbene Sakko hatte sich umgezogen und erschien nun im dunkelblauen Zweireiher, er sah darin noch feister aus. Die Signora blieb verschwunden. Kurz vor Mitternacht erschien der Kapitän und absolvierte seinen Pflichttanz, wie er sich ausdrückte, mit einer Dunkelhaarigen im geblümten Neckholder-Chiffonkleid. Eddy hatte vorher mit ihr einen Tango getanzt, der ganz passabel über die Runde ging. Der Kapitän begnügte sich mit einem Foxtrott, er konnte außer Foxtrott nicht wirklich tanzen. Wie eine humpelnde Raubkatze bewegte er sich auf dem Parkett mit viel zu großen Schritten. Der beigefarbene Sakko jetzt im Zweireiher malträtierte eine burschikos aussehende Lady, die eher in ein Fitnessstudio als in einen Tanzsalon passte.

 

Pünktlich um vierundzwanzig Uhr gingen die Scheinwerfer aus, der Salon war in Kerzenlicht getaucht, der Schneewalzer wurde intoniert und Damenwahl angesagt. »Unser Tanz Eddy«, sie stippte ihm von hinten auf die Schulter. Er berauschte sich an dem mediterran gesprochenen E, den beiden sinnlichen Ds, selbst das Ypsilon kam wie samt über ihre Lippen. Nun stand sie in einem atemberaubenden Kleid vor ihm. »Darf ich bitten.« Sie flogen über die Tanzfläche. Die Paare stellten sich im Kreis um sie herum. Wie eine Feder lag sie in seinem Arm. Jede Drehung, jeder Schritt war ein Schweben. Als er wieder zu sich kam, lag er im Sanitätsraum neben der Unterzuckerung.


Er habe sich übernommen sagte der herbeigerufene Arzt, maß den Blutdruck mit hundertfünfundvierzig zu fünfundachtzig und verordnete ihm einen Tag Ruhe. Bedröppelt schaute Eddy zur Decke, bemerkte die flackernde Neonröhre und lies einen langen Seufzer hören. Die Unterzuckerung neben ihm war mittlerweile auf dem Transport ins Krankenhaus. Der Jüngste war er nicht mehr, seine Arbeit hatte ihm immer Spaß gemacht. Na ja, nicht immer, aber meistens. Sein Black-out war total, an Nichts mehr konnte er sich erinnern. Er wusste nur noch, dass er schwebte, hörte den Schneewalzer, dann wurde es dunkel. E-D-D-Y vernahm er schemenhaft …
Die Signora, mein Gott, was musste sie von ihm denken. Unterm Tanzen abgeschmiert. Jetzt fühlte er die Beule an seinem Kopf, sie pochte immer stärker. Was er zunächst als Maschinengeräusch ortete, war sein Brummschädel, dass Schiff lag ja in Bratislava fest. Mit einem süffisanten Lächeln kam Klaus herein. »Na alter Knabe, wieder fit?« Klaus war der Zahlmeister des Schiffs, sie kannten sich eine Ewigkeit. »Selbst im Sturz warst du elegant, alle Hochachtung mein Lieber.«
Eddy stierte wieder zur Decke, immer noch flackerte die blöde Röhre. »Deine Tanzpartnerin versuchte sich sogar in Mund zu Mund Beatmung. War aber gar nicht
nötig«, schob er nach. Eddy fuhr mit der Zunge über seine Lippen. »Wo ist sie jetzt?«
»In ihrer Kabine nehme ich an.«

Antonia Vivaldi lag auf ihrem Bett, das türkisblaue Kleid war lässig über den Stuhl geworfen. Jetzt trug sie einen legeren Hausanzug in Karminrot. Die Rosen auf dem Beistelltisch kamen vom dunkelblauen Zweireiher. Antonia erinnerte sich an seinen Mundgeruch, der sich mit Minzepastillen vermischte. Sie erinnerte sich an Eddys Eau de Toilette von Armani. Mit einem wohligen Seufzer streckte sie sich aus, legte die Vogue zur Seite und schloss die Augen. »Der letzte Gigolo«, darüber wollte sie eine Serie schreiben. Der Tipp mit Eddy kam vom Kapitän des Schiffes, einem Freund ihres Exmannes. Sie kam nicht umhin, in Eddy eine angenehme Erscheinung zu sehen. Vielleicht eine Spur zu antiquiert, aber sympathisch, sehr sympathisch. Ein halbes Leben verbrachte er als Eintänzer. Was für eine Story. Jetzt musste nur noch Eddy mitspielen.

 

 

Der Neue

Nun stand er vor uns, ein Prachtkerl im offenen Hemd, Goldkettchen am Handgelenk mitsamt Rolex.
Martha strahlte - ihr Neuer.
Noch hatte er keinen Ton gesagt, sein Lächeln wirkte aufgesetzt, seine Studiobräune eine Spur zu aufdringlich.
Natürlich waren wir voreingenommen. Ihr Ex war nämlich ein ganz netter Kerl.
Er komme gerade aus L.A., meinte Martha, deshalb hätte er noch etwas Jetlag. Na, das sei mal nicht so schlimm, meinte er.
Huch, jetzt hatte er gesprochen. Seine Stimme passte nicht zu seinem Outfit, sie war eindeutig zu hoch, nicht gerade piepsig, aber zu hoch. Dann redete er eine Weile gar nichts, nahm mit einem knappen Nicken das Glas Prosecco und führe es zum Mund. Seine Lippen waren schmal und Martha hing an ihnen.
Er redete immer noch nichts. Unser Urteil war gefällt, noch bevor er eine Chance bekam sich vorzustellen. Constanze benutzte die Gelegenheit, als der Neue im Bad verschwand: »Wie geht es eigentlich Willi?« Willi war Marthas Ex.
»Ihr seid nicht fair«, schluchzte sie.
»Entschuldige bitte, wir mögen Willi, auch wenn du jetzt mit dem Neuen hier antanzt.«
»Willi ist Vergangenheit meine Liebe, ich verwirkliche mich jetzt mit Edelbert«.
»Kreisch - wie heißt der?« Constanze prustete heraus.
Marthas Augen funkelten Constanze an:
»Ich bring Dich um, wenn Du das jetzt weiter thematisierst.«
Dann war Edelbert wieder da.

Es wurde noch ein Prosecco getrunken, Edelbert wich Martha nicht von der Seite, und da er nicht direkt angesprochen wurde, musste er nicht antworten.
Es war auf der Terrasse gedeckt. Neben Constanze, Martha und Edelbert waren noch Jasmin und Hannibal da, wobei Edelbert nicht wirklich eingeladen war, aber als Anhängsel von Martha geduldet wurde.
»Erzählt doch mal, wie ihr euch kennengelernt habt.«
Jasmin lehnte sich dabei an Hannibal, der eher uninteressiert einer Amsel im Garten zusah, wie sie auf dem Rasen herumscharrte.
»Willst du erzählen Schnurz, oder soll ich?«
Jasmin konnte ihr glucksen gerade noch unterdrücken.
Edelbert wurde rot, man sah es trotz der Sonnenbankbräune.
»Na dann erzähl ich mal« ,dabei setzte sich Martha an die Stirnseite des gedeckten Tisches und orderte Edelbert an ihre rechte. Als Hannibal Besitzansprüche an seinem Platz  einfordern wollte, signalisierte Constanze ihm, er solle es heute mal erdulden. Mit beleidigtem Unterton: »dann geh ich mal die Antipasti holen«, verschwand Hannibal in der Küche.
»Schade Martha, wenn Edelbert erzählen würde wäre es sicher viele viel interessanter.« Dabei bekam Edelbert einen auffordernden Augenaufschlag von Constanze.
Hannibal balancierte ein Tablett auf die Terrasse und verteilte anschließend die Antipasti. »Buon Appetito mio amici.«
»Was wollt ihr von mir hören, die normale oder die dramatische Version?« Jetzt wirkte seine Stimme tiefer.
»Die Normale bitte!«, meldete sich Martha.
Jasmin wollte die normale Story hören, aber danach unbedingt die dramatische. Constanze schloss sich Jasmin an und Hannibal war es egal.
»Wenn Du die Dramatische erzählst, gehe ich vorher!«
»Komm Martha, wir sind doch unter uns und so schlimm ist es doch nicht – oder?« Constanze zog das »o« von »oder« deutlich in die Länge.
»Also, wenn mich jemand Schnurz nennen würde ...«
»Hör auf Hannibal, das muss dir scheißegal sein.« Martha bekam richtig rote Flecken am Hals.
Edelbert lächelte.
»Hach, jetzt wird‘s interessant«, dabei gab Jasmin Constanze einen Klaps auf den Po.
»Ist doch egal, wer wen wie nennt!«
»Nein, mir nicht, wenn mich jemand Schnurz nennen würde, dann ...«
»Hannibal!!«
Edelbert lächelte immer noch.
»Weißt du Hannibal, mir ist es egal, wie sie mich nennt, ganz egal.«
»Waaas, es ist dir egal« Die Flecken am Hals von Martha wurden noch größer.
»Ja, es ist mir egal ob Du mich Schnurz oder Furz oder wie auch immer nennst.«
Martha sank in sich zusammen und schluchzte zum Gotterbarmen.
»Komm Martha, wenn es Edelbert nichts ausmacht, dann ist es doch gut und Hannibal wird ja sowieso nicht Schnurz genannt.«
Constanze nahm Martha in den Arm, die aber fletschte zurück: »Ihr Zicken, ihr seid doch nur neidig, ihr habt Edelbert keine Chance gegeben, und du Hannibal bist sowieso ein, ein … ach leckt mich doch!«
Martha sprang von ihrem Stuhl auf: »Komm Schnurz, wir gehen!«
Constanze prustete los, nur Edelbert, genannt Schnurz, behielt die Ruhe. »Du bleibst da Martha!«
Nach diesem Befehl stieg Edelberts Achtung in der Runde.

 

 

 

Waldeslust

Von weitem erkennt man sie. Die Körper wiegen sich zwischen zwei 'Spinnenbeinen'.
Das Outdoor-Dressing ist perfekt. Die Skistöcke, sorry,  Nordic-Walking-Sticks passen farblich zum Sweater, das Stirnband zeigt stolz das Markenemblem auf blassrotem Hintergrund. Nur die Figur, die muss erst noch werden. Deutlich mehr Pfunde als normal quälen sich zwischen den Stöcken, die krampfhaft versuchen einen gleichmäßigen Takt auf den Kiesboden zu schlagen. Beide Ladys sind jenseits der knackigen Jahre. Das Make-up unter dem Stirnband will gar nicht so recht passen zu dieser Quälerei. Dementsprechend sind die Lippen der  Damen zusammengekniffen, die Augen blinzeln etwas deplatziert unter dem Lidschatten hervor. Die Walking-Schuhe, aus denen pinkfarbene Söckchen die Wade hochklettern, erinnern an overdresste Girlies einer Modezeitschrift.
Ein wenig verloren stehe ich abseits des Waldweges im Gras. Ich habe beschlossen, der geballten Frauenpower Platz zu machen, damit ich außerhalb ihrer Stockreichweite bin. Meine biederen Wanderschuhe wollen gar nicht so recht zu dieser Begegnung passen. Mein breiter Filzhut, schon in die Jahre gekommen, kann nicht mithalten mit den Stirnbändern der alternden Amazonen. Etwas verlegen nehme ich meine Hände aus den Hosentaschen. Nicht mal mit einem schlichten Wanderstab kann ich aufwarten.
Dementsprechend bemitleiden mich ihre Blicke, die mir unmissverständlich sagen: »Ach Gottelchen, so traut der sich in den Wald!«
Mein »Grüß Gott« verhallt unerwidert zwischen den Bäumen. Sie schnauben an mir vorbei. Gerade noch hatte ich den Duft des Frühlings in meiner Nase, als dieser jäh durch eine unsichtbare Parfümwolke verdrängt wurde. Auf gleicher Höhe mit ihnen sehe ich Wimperntusche, die sich als Rinnsaal den Weg zum Mundwinkel bahnt. Sie sind vorbei, doch das Schauspiel geht weiter. Pralle Rundungen füllen das Bild, daneben die zierlichen Stecken, die immer und immer wieder über den Boden geschleift werden. Nur langsam weicht die Parfümkollektion aus meiner Nase und macht dem frischen Laub Platz. Erst jetzt setze ich den Weg fort, spitze meinen Mund und Pfeife das altdeutsche Lied: »Waldes-lu-hu-hust, Waldeslu-hu-hust, oh wie einsam schlägt die Brust!«. Ich versuchte, mich dem Takt anzupassen, den mir die wabbelnden Pobacken vorgaben!«

 

 

Der Eisenbahnwaggon

Ein unverwechselbarer Geruch empfängt den Reisenden, wenn er einsteigt. Es riecht süßlich, nach Plastikpolstern, Öl und Kleidermief. Nicht die pfeilschnellen Waggons der Fernzüge sind es. Nein, gemeint sind die Eisenbahnwaggons der 60er und 70er Jahre, die heute noch von einer Diesellock auf den Regionalstrecken gezogen werden.

Nostalgie pur verspürt jeder, der an den überdimensionierten Heizungshebeln herumhantiert, an dem schwarzen Rad der Fußbodenheizung dreht. Die zweigeteilten Fenster lassen sich mit einem kräftigen Ruck öffnen. »Nicht aus dem Fenster lehnen«, steht dreisprachig auf dem kleinen Schild. Unwillkürlich liest man es immer wieder. An den Türhebeln steht in großen Lettern oben »ZU« und unten »AUF«. Vertraute Sprüche sind allgegenwärtig. »Nicht öffnen, bevor der Zug hält«.

Wenn sich der Waggon langsam in Bewegung setzt, kommt es zu einer Geräuschorgie. Es knarrt, quietscht, rattert vollkommen unmotiviert, aber auch in einem monotonen, gleichbleibendem Takt. Die innere Uhr des Reisenden gewöhnt sich an diesen Takt. Der Körper nimmt das Monotone auf und unterwirft sich dem gleichmäßigen Geräusch. Landschaften, Gärten, Gestrüpp, Wald ziehen vorbei, abgewechselt durch Fabrikanlagen, Häuser, Hinterhöfe. Was Menschen alles hinter ihrem Haus lagern. Zum Bahngleis zu ist »hinter dem Haus«, nach vorne blühen die Geranien, nach hinten türmt sich allerlei nicht mehr eindeutig Verwendungsfähiges. Ein Autofahrer bekommt keine so intimen Einblicke in eine Grundstückseinteilung.

Und dann erst das Halten. Eine wahre Geräuschexsplosion offenbart sich dem Reisenden. Das gleichmäßig Monotone wird gewaltsam unterbrochen, das gleichmäßig Ratternde, Holpernde wird runtergebremst. Der Körper kommt aus dem wohltuenden, labilen Gleichgewicht mit viel Geratter und Getriebegekreische in ein unangenehm empfundenes stabiles Gleichgewicht. Abrupt steht der ganze Waggon. Der Reisende empfindet all die statische Schwere ohne das monotone sanfte Dahinholpern. Nichts mehr gleitet vorbei. Statt dessen laufende, winkende, lachende, traurig dreinschauende Menschen. Viele Momente benötigt der Reisende um sich auf dieses neue Umfeld einzustellen. Befreiend der spürbare Ruck gleich nach dem Pfiff einer Trillerpfeife. Der Takt, die Monotonie findet wieder ihren Rhythmus. Beruhigend wirken die tief aus dem Eisenbahnwaggon hervorquellenden Geräusche. Der Körper versetzt sich in eine Harmonie des Rollens. Entspannt blickt der Reisende auf vorbeihuschende Telefonmasten. Das Auf und Ab der gespannten Drähte, die den Zug begleiten, mal stetig ansteigend, mal abrupt fallend findet Einklang mit dem gleichförmigen Rattern der Räder, dem rhythmischen Klappern einer schlecht schließenden Schiebetür.

Versunken in all den Geräuschphänomenen gleitet der Blick des Reisenden zum zitierten Schild über das unvorschriftsmäßige Hinauslehnen aus dem Fenster, vorbei tasten sich die Augen nach oben - NOTBREMSE- ein rotes, gefährlich wirkendes Schild weißt auf einen mit Draht und Plombe gesicherten Hebel hin. Unwillkürlich ist man versucht an diesem Hebel zu ziehen. »Geht er leicht?«, fragt man sich im Stillen, »funktioniert der überhaupt?«, will man im Geiste für sich selbst wissen. »Was passiert ,wenn ich daran ziehe?«. Alle anderen Schilder im Eisenbahnwaggon kann man nachvollziehen. Diese Schilder erzählen dem Reisenden was er tun soll, was er nicht tun darf, wo er hingehen muss, wenn er muss!

Nur dieses Notbremse-Schild gibt Rätsel auf. Ein Glück, dass der Reisende bald eingelullt wird vom rhythmischen Knacken, Knarren, Knattern, Holpern und Rattern. - Bis er jäh aus der sanften Melancholie hochschreckt: »Die Fahrkarten bitte!«

(c) by Fabrizius
 

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