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Der Schrei am Morgen

Der Schrei eines mongolischen Wanderhirten weckte mich. Mit zwei Beinen gleichzeitig sprang ich aus dem Bett. Das war mir schon ewig nicht mehr passiert. Ich schaute auf die Uhr: Exakt Fünfuhrdreißig Sommerzeit!

Es gab Zeiten, da wurde ich, wenn auch nicht um Fünfuhrdreißig, wachgeküsst. Heute war es ein Schrei! So ändern sich die Zeiten!

Das mag durchaus sein, dass um diese Uhrzeit mongolische Wanderhirten rumschreien, die müssen früh raus.

Das wäre überhaupt nichts Besonderes, wenn ich auf einem Trip durch die Mongolei gewesen wäre. Aber ich lag in meinem Bett zuhause in Niederbayern. Von mongolischen Wanderhirten in Niederbayern hörte ich bisher noch nie.
Auch war mir nicht bekannt, dass bei den Flüchtlingen Mongolen dabei gewesen sein sollten.

Der Schrei war echt! Ich hörte ihn deutlich. Das war kein Traum!

Ich zog den Rollladen hoch. Ein herrliches Morgenrot begrüßte mich über dem Donautal. Wie fantastisch würde dieses Morgenrot über der mongolischen Steppe aussehen?

Da! Da war er wieder!
Ein lang gezogener Schrei »Aaiiaiaijai!«
Und noch mal »Aaiiaiaijai!«
Mitten in Niederbayern. Eindeutig der Schrei eines mongolischen Wanderhirten.

Meine Neugier war geweckt!

Obwohl ich so einen Schrei vorher noch nie gehört hatte, war ich mir absolut sicher. Das war der Schrei eines mongolischen Wanderhirten. Der war so markant, so speziell, so typisch, den höre ich aus hunderten von Schreien heraus.

Nach einem kurzen Aufenthalt im Bad zog ich mich an. Camillo, das ist unser Hund, rekelte sich auf seiner Hundedecke, er wollte so früh noch nicht Gassi gehen.

Bei offener Balkontür saß ich am Tisch und nahm meine zwei Pillen ein. Zum Frühstücken war es noch zu früh, aber ein mit Tabasco aufgepeppter Tomatensaft war drinnen. Das ist jeden Morgen mein Standartdrink.

Ich musste diesem Schrei nachgehen. Im Stillen hoffte ich, ihn noch mal zu hören.

Der wolkenlose Himmel in strahlendem Blau versprach einen herrlichen Frühsommertag. Ich weiß, das riecht stark nach Klischee, aber er war nun mal wolkenlos und strahlend blau.
Ich hoffte vergebens.

Es kann natürlich sein, dass mongolische Wanderhirten diesen Schrei nur morgens in alles Früh absetzen, um ihre Sippe oder ihre Herde oder ihre Hütehunde wach zu bekommen.

Die ersten Stadtbusse hielten drüben vor dem PENNY-Markt und auch sonst waren arbeitsame Menschen unterwegs.

Was hüten mongolische Wanderhirten? Yaks, Ziegen, Schafe, Kühe, Lamas, Enten?
Quatsch, natürlich hüten sie Yaks, die man auch »tibetische Grunzochsen« nennt. In den Steppen der Mongolei laufen die zu Tausenden herum.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich hier im Niederbayrischen ein Bauer tibetische Grunzochsen hält. Obwohl, so hundertprozentig sicher bin ich mir da nicht. Niederbayern im Allgenmeinen und deren Bauern im Besonderen sind äußerst flexibel. Immerhin gehören Lamas schon zum heimischen Viehbestand.

Wie sonst kann frühmorgens mitten in Niederbayern der Schrei eines mongolischen Wanderhirten zu vernehmen sein?

»Bos mutus«, das ist der lateinische Name des Grunzochsen. Das nur der Vollständigkeit halber. Übrigens dort in der Mongolei werden nur die männlichen Tiere »Yak« genannt.
Der Name kommt aus der tibetischen Sprache und sieht im Original so aus: གཡག་.
Die weiblichen Rindviecher heißen »’bri«, was im Original so geschrieben wird:  འབྲི

So viel zur sprachwissenschaftlichen Aufklärung. Das mag ja den einen oder anderen Leser durchaus interessieren.
Ist doch schön, zu wissen, wie das alles zusammenhängt, wenn man wirklich mal einem Yak von Angesicht zu Angesicht begegnet.

Ich wollte später, das heißt nach dem Frühstück, zusammen mit Camillo runter Richtung Donau laufen. Dort liegt noch eine weite und natürlich unbebaute Wiese. Wenn es hier in Passau Yaks geben sollte, dann nur dort, da ist genügend Auslauf. Und wo Yaks sind, sind auch die mongolischen Wanderhirten. Mit dieser Erkenntnis ging ich erst mal rüber zum Bäcker Reitberger, um frische Semmeln zu holen.

Der Schrei, dieses markante »Aaiiaiaijai!«, ging mir nicht aus dem Ohr.
Der war nicht schrill, nicht unangenehm. Da war Melodie drinnen und tausend Sehnsüchte nach Weite.

Unwillkürlich stellt man sich, wenn man diesen Schrei hört, die weite mongolische Steppe vor. Wer sonst, als ein mongolischer Wanderhirte, konnte diesen Schrei so authentisch, so urwüchsig rüberbringen?
Ich musste den Mann finden!

Vorsichtig begann ich meine Recherche.
Beim Bäcker fragte ich die Fachverkäuferin, eine dezent korpulente Mittfünfzigerin, ob sie heute Morgen gegen Halbsechs einen besonderen Schrei gehört hätte.
Sie sei erst seit Halbsieben hier und würde am anderen Ende der Stadt, nämlich Grubweg, wohnen.
Da konnte sie den Schrei natürlich nicht gehört haben, das leuchtete mir ein.

Dann fragte ich noch einen Herren, der nicht nur nach Rentner aussah, sondern auch einer war, nach dem Schrei. Der wohnte gleich gegenüber in einer Wohnanlage. Theoretisch müsste er den Schrei gehört haben. Hatte er aber nicht, wie er mir glaubhaft versicherte. Er würde ja um diese Jahreszeit immer bei offenen Fenster schlafen, aber mit einem Schrei heute Morgen in aller Frühe könne er nicht dienen.

Dann war da noch die alleinstehende Dame mit dem fetten Hund unbekannter Rasse. Sie, so erzählte sie mir bereitwillig, würde immer sehr früh aufstehen. Sie würde erst mal die frische Luft genießen und sich dann eine Zigarette anzünden. Einen Schrei habe sie nicht gehört.

Ganz nebenbei bekam ich wenig später mit, dass der Rentner die Fachverkäuferin für Bäckereiwaren nach dem Schrei fragte und dann rüber zu mir schaute.

Nachdem der fette Hund vor dem PENNY-Markt angebunden war und rum jaulte, sah ich die alleinstehende Dame, wie sie mit einer Metzgereifachverkäuferin tuschelte. Gleich danach schauten beide zu mir herüber.

Der Schrei des mongolischen Wanderhirten war in aller Munde.

Neben dem Filialbetrieb der Bäckerei Reitberger gibt es den Filialbetrieb der Metzgerei Heindl, alles im PENNY-Markt untergebracht. Das wollte ich der Vollständigkeit halber erwähnen. Unsere Nahversorgung sieht ganz gut aus. Das kann alles fußläufig erreicht werden, wenn man noch gut mit den Füßen kann.

Vielleicht zehn Minuten später, ich war gerade auf dem Heimweg mit meinen frischen Semmeln, fragte mich eine Nachbarin, die mich gerade überholte, ob ich heute Morgen einen Schrei in der Siedlung gehört hätte.
Sie konnte mich deshalb überholen, weil sie in Eile war, ihre beiden Kinder mussten zur Schule, während ich als Rentner alle Zeit des Lebens hatte.
Sie selbst habe den Schrei ja nicht gehört, aber das sei drüben im PENNY das Gespräch heute Morgen. Dann wünschte sie mir noch einen schönen Tag.

Gerade als ich es mir auf dem Balkon gemütlich gemacht hatte, sah ich ein Polizeiauto auf dem PENNY-Parkplatz. Zwei Beamte, in einem Polizeifahrzeug sind immer zwei Beamte, kamen gerade aus dem Markt und gingen den Fußweg hoch.
Sie kamen über den Rasen direkt zu mir auf den Balkon, der hat nämlich eine Treppe nach unten auf besagten Rasen.

Ob ich heute Morgen verdächtige Geräusche wahrgenommen hätte, wollten sie von mir wissen. Noch bevor ich den Kopf schütteln konnte, erzählten sie mir:

Ein pensionierter Oberstudienrat sei von mehreren Kunden des PENNY-Marktes danach gefragt worden. Und weil er seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachkommen wollte, meldete er das sogleich der Polizei. Er selber habe allerdings nichts gehört und gesehen.

Ein »typisch Oberstudienrat«, verkniffen sie sich, obwohl ich es eindeutig aus ihren Gesichtern ablesen konnte. Dieses süffisante Lächeln der beiden war entlarvend.

Offensichtlich wussten die beiden Beamten nicht, dass ich der Urheber des Gerüchtes war. Sie sammelten nur Material, wie sie es nannten, um der Anzeige des Herrn Oberstudienrates Genüge zu tun. Der wollte nämlich nach zwei Stunden noch mal anrufen und sich nach dem Fortgang der Ermittlungen zu erkundigen.

Ich beschloss erst mal, den mongolischen Wanderhirten nicht zu erwähnen.

Ich hätte das auch drüben beim Semmelholen gehört, gab ich zur Antwort. Aber solchen Gerüchten sollte man nicht allzu viel Aufmerksamkeit beimessen.

Da sei ja alles schön und gut, aber dem Oberstudienrat müssten sie ja was vorweisen können. Der würde nämlich alle Nase lang bei ihnen anrufen um sich über das und jenes zu Beschwerden. Das sei ein ganz übler Zeitgenosse, der die Polizeiarbeit nicht unbedingt leichter machen würde.

»Verhängen Sie doch eine Nachrichtensperre, das klingt interessant und leuchtet jedem ein!«, schlug ich den Beamten vor.
Dann lud ich sie noch zu einem Kaffee ein, den sie dankend annahmen.

Das »Aaiiaiaijai!« Ging mir nicht aus dem Kopf!

Drunten auf der Wiese grasten keine Yaks, da graste gar nichts! Selbst unser Hund Camillo schnupperte eher lustlos auf der Wiese herum. Er war anscheinend Besseres gewohnt.

Wenn ich diese Schreie nicht so intensiv, so laut und deutlich gehört hätte. Das war so was von real. Und dann gleich dreimal hintereinander! Das muss doch außer mir noch jemand gehört haben.

In den Nachmittagsstunden kamen die Zweifel. Konnte ich mich verhört haben? Bei einem Schrei, ok, das hätte ich einsehen können. Aber bei drei Schreien!

Ich glaube ja nicht an Fügungen und Zufälle und all so ein Zeugs, aber als ich am frühen Abend über mein iPad ZDF Info anmachte, was sah ich da? Eine Dokumentation über mongolische Wanderhirten. Da sah ich sie, wie sie mit ihrer Sippe, ihren Hunden und Yaks als Nomaden umherzogen.

Verdammt noch mal, das kann doch kein Zufall sein!

Dann hörte ich aus dem Fernseher den Schrei, den ich am Morgen um Halbfünf dreimal hintereinander gehört hatte. »Aaiiaiaijai!«
In der wilden Umgebung der mongolischen Steppe klang der noch verwegener und archaischer als der heute Morgen am Stadtrand von Passau. Aber es war der gleiche Schrei!

Lange lag ich in der Nacht wach und grübelte über den Schrei eines mongolischen Wanderhirten nach. Ein paarmal war ich selbst versucht, den Schrei zu intonieren, nahm aber jedes mal Abstand davon.
Soweit kam es noch, dass ich mich zum Affen machte wegen so eines Schreies.
Irgendwann weit nach Mitternacht musste ich eingeschlafen sein.

Kerzengerade stand ich neben meinem Bett. Punkt Halbfünf Sommerzeit. Da war er wieder. »Aaiiaiaijai!«
Ich blickte aus dem Fenster, aber nichts mehr mit blauem Himmel und so ein Zeugs. Der Himmel war verhangen, es hatte in der Nacht geregnet.

Der Schrei kam noch mal. Genau so wie gestern. Zweimal hintereinander: »Aaiiaiaijai!«, und noch mal »Aaiiaiaijai!«
Verdammt noch mal, den musste doch außer mir noch jemand hören!
Camillo, der bei jeder Taube auf dem Balkon rumkläfft, lag seelenruhig auf seiner Hundedecke.

Beim Semmelholen fragte mich die gleiche Bäckereifachverkäuferin von gestern, ob ich noch jemanden gefunden hätte, der gestern diesen besonderen Schrei gehört hätte? Leicht gereizt antwortete ich ihr mit einem knappen »Nein!«
Dann berichtete sie mir, dass deswegen sogar die Polizei hier gewesen sei.

Ich grüßte sie nur noch knapp und vergaß prompt unter der Anspannung eine Mohnschnecke mitzunehmen. Die Bäckerei Reitberger backt nämlich weit und breit die besten Mohnschnecken.

In der Mediathek von ZDF Info schaute ich mir die Dokumentation noch mal an. Dieser archaische Schrei zog mich in seinen Bann.

Kaum war der Schrei verklungen, klingelte es an der Haustüre.

»Machst Du auch beim Jodelwettstreit nächste Woche beim Streiblwirt mit?«, fragte mich der Engelputzeder Beppi, der zwei Straßen weiter wohnte. Er sei zufällig vom PENNY-Markt hochgegangen und habe mich Jodeln gehört.

Der Engelputzeder Beppi ist ein gebürtiger Österreicher aus dem Stubaital, den es vor Jahren hierher nach Passau verschlug. Schon ewig spielt und singt er bei einer Stubenmusi, die auch immer wieder bei allerlei Festivitäten auftritt.
Exakt diesen Jodler »Aaiiaiaijai!« Habe er jetzt mehrfach für den Wettstreit geprobt.

Das sei schon komisch, dass ich mir den gleichen Jodler ausgesucht hätte. Das sei nämlich ein ganz besonderer Jodler, den die mongolischen Wanderhirten heute noch singen würden.

Dann bot er mir noch an, nächste Woche beim Streiblwirt zusammen mit ihm zu jodeln. Damit würden wir sicher den ersten Preis holen.

Ich jodelte nicht mit und Beppi machte nur den zweiten Preis. So ein trachtenjankertragender Lackaffe aus Oberbayern holte sich mit dem Kaiserjodler den ersten Preis.

Gegen soviel Aristokratie kann ein mongolischer Wanderhirte, auch wenn er Engelputzeder heißt, nichts ausrichten.

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